Wie werden Tore erzielt? Das ist die zentrale Frage im Fußball. Nur wenn wir diese Frage beantworten, können wir Konzepte entwerfen, wie wir planen anzugreifen und zu verteidigen. Eine allgemeine Antwort auf diese Frage zu finden, ist jedoch auf den ersten Blick recht schwer. Was haben ein grandioses Solo von Lionel Messi inklusive erfolgreichem Abschluss, ein Kopfball-Tor von Sasa Kalajdzic und ein wunderbarer 30-Pass-Angriff über alle Stationen von Manchester City, der mit einem Treffer schon gemeinsam? Bis auf den Torerfolg scheint da erstmal nicht viel zu sein.
Das war auch einer der Gründe, warum es mir so schwer fiel, einen Anhaltspunkt zu finden, als ich versuchte das Angriffsspiel im Fußball für mich zu konzeptualisieren. Das änderte sich erst, als ich die Gemeinsamkeiten von Toren im Fußball gefunden habe: Die vier Vorteile.
Meiner Einschätzung nach ist bei jedem Tor im Fußball mindestens einer der vier Vorteile, meist mehrere und oft in der gesamten Entstehung sogar alle vier entscheidend. Deswegen möchte ich hier einen Blick auf diese Vorteile werfen und wie sie miteinander interagieren.
Der numerische Vorteil
Der numerische Vorteil ist nichts anderes als eine Überzahlsituation. Diese Situationen versuchen Teams konstant zu erzeugen. Im Aufbau erleichtert die Überzahl eine ruhige Ballzirkulation, auf dem Flügel kann so einen 2gegen1 aufeglöst werden und in der Box hat man eine höhere Chance einen freien Spieler zu erzeugen.
Das Erzeugen von Überzahlen ist ein so bekanntes Konzept, dass es hier nicht weiter ausgeführt werden muss. Die Wahrscheinlichkeit im Vorlauf eines Tores eine Überzahl gehabt zu haben, ist sehr hoch. Der numerische Vorteil alleine erklärt aber bei weitem nicht alle Tore, da wir doch immer wieder Tore erzielen, für die im Moment direkt vor der Torerzielung kein numerischer Vorteil vonnöten war.
Nehmen wir zum Beispiel dieses Tor Lionel Messis:
Barcelona verfügt hier über keinen numerischen Vorteil, also warum fällt dieses Tor?
Der inviduelle Vorteil
Ein Grund für dieses Tor heißt Messi. Nicht jeder Fußballer kann zwei Gegenspieler mit einer Bewegung auswackeln und dann den Ball mit dem ersten Kontakt unhaltbar ins untere Eck schießen. Denken wir auf konzeptioneller Ebene heißt der Vorteil Barças nicht mehr Lionel Messi, sondern inidividueller Vorteil. Das Herausstellen von individuellen Vorteilen ist ein unerlässlicher Bestandteil erfolgreicher Fußballteams.
Das muss nicht immer in Form von einem Messi sein, sondern kann auch ein bei Tiefenläufen kaum aufhaltbarer Kylian Mbappé sein oder ein Sasa Kalajdzic, der als größter Spieler der Bundesliga und ausgestattet mit einer brillianten Kopfballtechnik sowie einem der besten Flankengeber der Liga in Borna Sosa immer wieder genauso wie Mbappé und Messi in individuelle Vorteil-Situationen kommt.
Die Idee des individuellen Vorteils ist mir besonders wichtig, da er die Interaktion von Spielidee und Spielern hervorhebt. Jeder Trainer und Taktik-Interessierte wird eine Idee davon haben, wie er Fußball am liebsten sehen würde. Daraus lassen sich Prinzipien und erwünschte Verhaltensweisen ableiten, aber letztlich bestimmen die 22 Spieler auf dem Feld das Spiel. Die größte Chance auf Erfolg ist dann gegeben, wenn alle Spieler ihre bestmöglichen Leistungen abrufen. Das geht nur dann, wenn sie ihre individuellen Vorteile ausspielen können. Grundsätzliche Prinzipien können spieler-unabhängig gelten, aber bei der Entwicklung detaillierter Vorgehensweisen interagieren diese stets mit den Spielern.
Um den Drittel Vorteil zu erkennen, lohnt sich ein Blick auf folgenden Treffer Sevillas aus der Saison 18/19:
Der dynamischer Vorteil
Wir sehen hier eines der Lieblings-Mittel zur Torerzielung, für das vor allem Pep Guardiolas Teams in den vergangenen Jahren standen: Den Chip-Pass hinter die gegnerische Kette gegen die Verschieberichtung der gegnerischen Kette. Die Idee dahinter ist recht simpel: Der Rückpass Wissam Ben Yedders leitet die gegnerische Kette dazu an, auf den Passempfänger herauszuschieben. Währenddessen startet ein Mitspieler in die Tiefe. Diesen Tiefenweg aufzunehmen, ist extrem schwer, da der Spieler, der diesen Weg geht hier den dynamischen Vorteil hat. Er kommt mit mehr Tempo in die Aktion und schaut auch in die Richtung, in die er bald den Ball erhalten wird, während der Verteidiger sich noch einmal umdrehen müsste.
Selbst Wissam Ben Yedder läuft sich vor seinem Treffer sogar nochmal in die entgegengesetzte Richtung zu seinem direkten Gegenspieler frei und kann so einen weiteren dynamischen Vorteil kreieren. Solche dynamischen Vorteile treten in einem Fußballspiel durchgehend auf. Sie beschreiben Situationen, in denen die verteidigende Mannschaft reagieren muss und die angreifende Mannschaft so ihre Folgeaktion aktiv bestimmen und so eine möglichst schwierige Situation für den Gegner hervorrufen kann.
Ich würde bei dynamischen Vorteil nicht schwarz-weiß denken (es gibt einen dynamischen Vorteil oder es gibt keinen), sondern auf einer Skala (großer dynamischer Vorteil vs kleiner dynamischer Vorteile). Je größer der dynamischer Vorteile, desto größer die Chance auf eine erfolgreiche Offensivaktion.
Eine weitere Szene, in der ein dynamischer Vorteil auftritt, ist dieses Tor Real Sociedads:
Durch seine Blick- und Körperorientierung lenkt Martin Ödegaard hier zunächst die gegnerische Kette in einer Richtung, spielt dann seinen Pass gegen die Verschieberichtung, erzeugt so einen großen dynamischen Vorteil, der letztlich im Tor endet. In dieser Szene sehen wir zudem den vierten Vorteil.
Der positionelle Vorteil
Beim numerischen Vorteile habe ich noch von der Relevanz von Überzahlen gesprochen. Das Problem an Überzahlen: Wenn du irgendwo eine Überzahl hast, musst du auch irgendwo eine Unterzahl haben. Der positionelle Vorteil beschreibt Situationen, in denen die Positionierung eines Spielers für einen Vorteil sorgt. Das kann zum Beispiel ein Stürmer sein, der zwei gegnerische Innenverteidiger bindet und so einem Mitspieler den Zwischenlinienraum öffnet. Oder wie im Fall des Real-Sociedad-Tores ist es die kluge Positionierung von Zwischenlinienspielern.
Real Sociedad hat hier eigentlich eine 4-zu-6-Unterzahl im Mittelfeld. Durch die Bewegungen der drei Zwischenlinienspieler schaffen sie aber letztlich einen freien Spieler zwischen den Linien zu kreieren, den sie nun anspielen können.
Mikel Merino spielt den Ball nun weiter auf Ödegaard und wir sehen den schon angesprochenen dynamischen Vorteil greifen. Der lässt sich an dieser Stelle zusätzlich auch als individueller Vorteil beschreiben. Ödegaard liebt diese Pässe gegen die eigenen Körperorientierung und spielt sie so gut wie kaum ein anderer Spieler auf der Welt. Diese individuelle Qualität hervorzuben, ist das Ziel individueller Vorteile.
Auch die Besetzung der Box ist aus Vorteil-Sicht interessant:
Schaut man auf die gesamte Box ist Real Sociedad in Unterzahl. Allerdings laufen vier Villarreal-Spieler nur hinterher und können den für die Hereingabe relevanten Raum nicht mehr verteidigen. In diesem Raum hat Real Sociedad derweil einen numerischen Vorteil, eine 3-gegen-2-Situationen. Schaut man auf die gesamte Box kann man aufgrund der Dynamik der Situation auch von einem positionellen Vorteil sprechen.
Dieses gesamte Tor als Beispiel zeigt, wie eng die Linien zwischen den einzelnen Vorteilen verlaufen. Würde man den gesamten Vorlauf dieses Tores noch mit einbeziehen, würde man noch einige weitere Vorteile finden, die in ihrer Interaktion dieses Tor hervorgerufen haben.
Für mich sind die vier Vorteile zu einem sehr wichtigen Anhaltspunkt geworden in meinem Versuch das so komplexe Fußballspiel zu konzeptionalisieren. Der Zweck offensiver Prinzipien und Herangehensweisen lässt sich einfacher beschreiben und vor allem das Herstellen der Zusammenhänge zwischen diesen Prinzipien wird klarer.
Vielleicht könnt ihr der Idee der vier Vorteile auch etwas abgewinnen. Würde mich über Feedback hierzu sehr freuen.