Was man von einem Jahrtausende alten chinesischen Militärstrategen über den Fußball lernen kann
Im Fußball-Journalismus sowie in den Aussagen von Trainern, Verantwortlichen und Spielern tauchen Kriegs-Vergleiche recht häufig auf. Die Rede ist hierbei vom fehlenden Kampf, einer Schlacht oder ähnlichen martialischen Begriffen. Ich mag diese Begriffe nicht. Oftmals werden sie verwendet, um komplexe Sachverhalte zu simpel erklären zu wollen. Außerdem geht es im Fußball, anders als im Krieg, nicht um Leben und Tod. Fußball ist nur ein Spiel und Kriegs-Metaphern tragen wie einige andere Dinge in der Berichterstattung zur Überhöhung dieses Spiels bei.
Zwischen dem Krieg und dem Fußball gibt es jedoch klare Verbindungen, die über das Martialische hinausgehen. Die Begriffe der Strategie und Taktik stammen aus dem altgriechischen und wurden dort zunächst verwendet, um Strategie und Taktik innerhalb einer Schlacht und innerhalb von Kriegen zu beschreiben. Auch der Begriff der Formationen stammt aus diesem Kontext. Weiteres Kriegs-Fußball-Vokabular umfasst den Schuss, die (Ball)Eroberung oder den Zweikampf. Wie dieses Vokabular in den Fußball gekommen ist und wo hier auch Unterschiede zwischen Sprachen und Ländern liegen, ist eine äußerst interessante Thematik, auf die Ich hier jedoch erstmal nicht eingehen werde. Stattdessen soll es um die Zusammenhänge von Strategie und Taktik im Krieg mit Strategie und Taktik im Fußball gehen.
Sun Tzu schrieb hierüber circa 500 v. Chr. das Buch “Die Kunst des Krieges”. Dieses Buch genießt auch heutzutage noch große Bekanntheit. Luiz Felipe Scolari gilt als großer Fan und soll jedem seiner Spieler der Weltmeisterschaft 2002 ein Exemplar geschenkt haben. Das hat mich vor die Frage gestellt, was man aus diesem Buch für den Fußball lernen kann.
Beginnen wir aber zunächst mit etwas Theoretischem: Worin liegt die zentrale Gemeinsamkeit von Krieg und Fußball? Im Ziel nicht. Ziel des Fußballs ist es ein Tor zu erzielen. Ein Äquivalent dazu lässt sich im Militär nicht wirklich finden. Die Gemeinsamkeit findet sich jedoch, wenn man darauf blickt, wie das Ziel im Fußball erreicht werden muss, nämlich durch Raumgewinn. Neben dem Erzielen/Verhindern eines Tores ist das zweite große Ziel des Fußballs die entscheidenden Räume zu kontrollieren, selber möglichst viel Raum zu beherrschen und wenig Raum herzugeben. Nichts anderes ist auch das Ziel des Kriegs.
Aus diesem theoretischen Hintergrund lässt sich erklären, warum Vergleiche zwischen Krieg und Fußball (im Taktischen) geknüpft werden können und warum sich gerade der Fußball und andere Spielsportarten dafür im Vergleich zu Individualsportarten, in denen das Gewinnen von Raum gegen einen Gegner keine so große Rolle spielt/spielen kann, anbieten. Der Fußball nimmt hierbei selbst unter den Spielsportarten nochmal eine Sonderrolle ein, da er anders als zum Beispiel der Handball oder Basketball ein größeres Feld bietet und auch ein prozentual ein größerer Anteil des Feldes bespielt wird als in den beiden genannten Sportarten, in denen das Mittelfeld schneller überschritten wird.
Jetzt aber zu Sun Tzu: Einer seiner berühmtesten Sätze könnte so auch in einem Trainerlehrbuch stehen: “Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.” Recht hat er damit immer noch. Stärken und Schwächen der eigenen und der gegnerischen Mannschaft sowie die Analyse dieser bilden den Grundstein der Analyse eines Spiels und des Erfolgs.
Sun Tzu legt einen großen Wert auf die Planung und Vorbereitung einer Schlacht. Nur ein geplanter Sieg, sei auch ein wahrhaftiger Sieg. Allein am Titel des Buches ist bereits zu erkennen, dass der Krieg als Kunstform gesehen wird. So sehr ich dem nicht zustimmen würde, ist hier doch wieder eine Parallele zum Fußball vorhanden, der ebenso — von Pep Guardiola eher als von Sam Allardyce — als Kunstform interpretiert wird. Besonders das perfekte Aufgehen eines Plans weist einen besonderen Charme auf und zeichnet die größten ihrer Zunft aus: “Die Fähigkeit, den Feind einzuschätzen, die zum Sieg führenden Kräfte zu kontrollieren, die Schwierigkeiten, Gefahren und Entfernungen genau zu kalkulieren — dies ist die Prüfung für einen großen General.”
Der eigene Plan soll den Gegner bestmöglich in eine falsche Aktion verführen. Durch das Antäuschen einer Aktion kann eine Gegenreaktion provoziert werden, die dann ausgenutzt wird. Dieses simple Prinzip finden wir im Fußball häufig. Im Dribbling wird hierfür die Finte genutzt, im Passspiel entgegen der Blickrichtung gepasst und im Mannschaftsverbund eine überladene Seite per Verlagerung verlassen, um auf der Gegenseite ein 1gegen1 herzustellen.
“Deshalb zwingt der kluge Kämpfer seinem Gegner seinen Willen auf, doch er lässt nicht zu, dass der Gegner ihm den seinen aufzwingt. Indem er ihm einen Vorteil anbietet, kann er den Zeitpunkt bestimmen, zu dem der Feind sich nähert; oder er kann es dem Feind, indem er ihm Schaden zufügt, unmöglich machen näher zu rücken.”
Dieses Zitat sagt viel darüber aus, wie Sun Tzu über Kontrolle denkt. Kontrolle im Fußball lässt sich nur schwer definieren, da sie nicht gleichbedeutend mit Ballbesitz ist. Man denke nur an eine Mannschaft, die in höchstem Tempo von einem Klopp-Team angelaufen wird. Einige Teams schaffen es, in diesem Fall die Kontrolle zu halten, viele nicht. So kann man auch ohne Ball das Spiel kontrollieren. Ein klassischer Fall für das Anbieten eines Vorteils und des Bestimmens des Vorrückens des Gegners ist eine Pressingfalle. Sun Tzu wäre ein großer Fan Jürgen Klopps gewesen.
Die gesamte Niederschrift folgt einem großen Thema: Agieren und den Gegner zum Reagieren zwingen. Ein weiteres Kernziel des Fußballs. So lässt sich dann womöglich auch die Kontrolle im Fußball definieren: Die kontrollierende Mannschaft ist die, die vermehrt agiert und den Gegner zum reagieren zwingt. Mehr Agieren bedeutet mehr Kontrolle. Daher ist das Ziel gegenüber den Gegnern: “…mache ihnen Schwierigkeiten und halte sie ständig in Atem; täusche sie mit Verlockungen, und lasse sie jeweils zu dem Ort eilen, den du bestimmst.”
“Militärische Taktik ist dem Wasser ähnlich; denn das Wasser strömt in seinem natürlichen Lauf von hohen Orten hinunter und eilt bergab. So muss im Krieg gemieden werden, was stark ist und geschlagen werden, was schwach ist. Wasser bahnt sich seinen Weg entsprechend der Natur des Bodens, auf dem es fließt; der Soldat erkämpft sich seinen Weg entsprechend der Natur des Feindes, dem er gegenübersteht. Und wie Wasser keine unveränderliche Form kennt, gibt es im Krieg keine unveränderlichen Bedingungen.”
Sun Tzu vergleicht die militärische Taktik mit dem Wasser. Dieser Vergleich ist auch auf den Fußball anwendbar. Im Fußball wird gerne von Formationen geredet. Diese passen sich genau wie das Wasser dem Gegner und der unmittelbaren Spielsituation an. So verlaufen Formation schließlich flüssig ineinander über. Formationen verändern sich ständig, genauso wie sich auch Spielsituationen verändern, sodass im Fußball ein Spiel voller sich stetig verändernder Bedingungen entsteht.
Angesichts dieser stetig verändernder Bedingungen stellt Sun Tzu die Wichtigkeit der Planung heraus, die er definiert als das Vorhersehen aller möglichen Szenarien. Im Fußball ist das unmöglich, daher werden den Spielern grobe Verhaltensvorgaben (implizit und explizit) mit auf den Platz gegeben, denen sie dann in den verschiedenen Szenarien, die sie auf dem Platz begegnen könnten, abrufen können.
Vergleichbar sind diese situationsabhängigen Szenarien mit den verschiedenen Situationen und Terrains, die im Kampf aufkommen. Sun Tzu definiert auch diese klar und beschreibt Vorgehensweisen. Das ausgleichende Gelände ist zum Beispiel ein Gelände, in dem keine Seite einen klaren Vorteil hat und daher ein Köder gelegt werden soll, während das eingeengte Gelände möglichst schnell verlassen werden soll, da der Gegner hier trotz einer Unterzahl zu einer Gefahr werden kann.
Übertragt man beide Beispiele auf den Fußball, so kann man das ausgleichende Gelände beispielweise als die Ballzirkulation im Mittelfeld wiedererkennen, in die ein Köder per Pass zwischen die Linien auf einen fallenlassenden Stürmer gelegt wird. Ein Verteidiger muss sich nun entscheiden, ob er rausrückt oder auf seiner Position verharrt. In beiden Fällen kann ein Vorteil eintreten: Entweder der Stürmer dreht auf oder der Verteidiger rückt raus und öffnet Raum hinter sich.
Das eingeengte Gelände ist derweil vor allem auf der Außenbahn zu finden, wo besser gepresst werden kann, da der Ballführende in eine Richtung weniger ausweichen kann. Besonders, wenn er unter Druck gesetzt wird, gilt es, diese Zonen schnellstmöglich zu verlassen.
Bei der Lösungsfindung für einen Spieler muss dieser sich verschiedenen Referenzpunkten bedienen. Im Fußball sind die klassischen Referenzpunkte Ball, Raum, Mit- und Gegenspieler. Darüber hinaus stellen einige Trainer bestimmte Verhaltensregeln auf à la “ ein Pass sollte stets auf den vorderst möglichen Mitspieler erfolgen”. Das beeinflusst die Wahrnehmung und das Umblickverhalten von Spielern natürlich sehr.
Sun Tzu stellt im Krieg ebenfalls Referenzpunkte heraus. Ohne ein klares Spielfeld sind dies vor allem Banner. Darüber hinaus werden Trommeln zur Signalübermittlung genutzt. Die Trommeln dienen hier somit als auditive Referenzpunkte. Wenn Thomas Müller dirigierend über den Platz läuft und gar nicht aufhört zu reden, passiert im Grunde nichts Anderes. Diese Referenzpunkte nehmen einen hohen Stellenwert ein, da sie erst die Organisation innerhalb eines Kampfes/eines Fußballspiels ermöglichen.
In Die Kunst des Krieges werden noch viele weitere Themen, vor allem auch organisatorischer Natur, behandelt, die jedoch diesen Rahmen sprengen würden. Stattdessen fasse Ich lieber noch einmal zusammen, welche großen Lehren man aus diesem Buch in den Fußball-Kontext übertragen kann:
- Planung ist unerlässlich für Erfolg.
- Die Planung beinhaltet die Analyse von sich selber und dem Gegner sowie allen möglichen auftretenden Szenarien.
- Den Handelnden müssen für diese Szenarien klare Verhaltensvorgaben mitgegeben werden.
- Dem Gegner muss aktiv der eigene Wille aufgezwungen werden, sodass er ins Reagieren gerät.
Und zum Abschluss noch ein letztes Zitat, das verdeutlichen soll, wie vielseitig und vorausschauend ein grandioser Taktiker sein muss:
“Der geschickte Taktiker kann mit der shuarian verglichen werden. Die shuarian ist eine Schlange, die in den Chang-Bergen gefunden wird. Schlage ihr auf den Kopf, und der Schwanz wird dich angreifen; schlage ihr auf den Schwanz, und der Kopf wird dich angreifen; schlage sie in der Mitte, und Kopf und Schwanz werden dich angreifen.”