Weniger ist Mehr oder Mehr ist Weniger — über Risiko im Fußball und das deutsche EM-Aus
Deutschland scheidet im Achtelfinale der Europameisterschaft aus. Im Wembley-Stadion unterliegt man England 0:2. Nach den spektakulären Spielen der bisherigen EM verlief dieses Spiel ernüchternd.
Warum? Beide Mannschaften vermieden spielerische Risiken. Deutschland baute mit einer Dreierkette und einem sch fallenlassenden Kroos auf, England setzte auf der rechten Defensivseite extra auf Trippier und Saka, wohl auch um Gosens kalt zu stellen. Das funktionierte und so wurde es ein Spiel der wenigen Chancen. Laut Opta gab England nur fünf Torschüsse ab. Deutschlands sieben Torschüsse sind nur minimal besser. Nach xG stand es 1,31 zu 1,28.
Es war ein enges Match und genau das wollten beide Trainer scheinbar. Nun wird man sich an vielen Stellen an dieses Spiel erinnern als Spiel, in dem beide Mannschaften Risiken umgehen wollten. Meiner Ansicht nach gingen jedoch beide Mannschaften und vor allem deren Trainer mit ihrer Herangehensweise ans Spiel ein noch viel größeres Risiko.
Im Fußball begegnen wir dem Begriff Risiko oft, wenn es um Mannschaften geht, die defensive Lücken aufzeigen. Dabei sind defensive Lücken nicht zwingend schlimm. Hansi Flick wurde mit Bayern München zwei Mal klar Meister und gewann die Champions League. Atalanta wird in der nächsten Saison das zweite Mal in Folge in der Champions League spielen. Dabei sind beide Mannschaften alles andere als defensiv sattelfest.
Im Fußball muss letztlich stets abgewogen zwischen Risiken zu Chancen. Mit zehn Feldspielern in der gegnerischen Hälfte ist die Chance auf ein Tor höher als mit zehn Feldspielern in der eigenen Hälfte. Ein aggressives Gegenpressing kann derweil die Chance bieten, direkt nach Ballverlust wieder einen eigenen Angriff einzuleiten. Aufgrund einer damit oft verbundenen hohen letzten Abwehrreihe ist damit jedoch auch ein Risiko verbunden. In vielen Fällen (siehe Flick-Bayern) lohnt sich dieses Risiko jedoch.
Es lohnt sich im Fußball zwischen zwei Arten von Risiko zu unterscheiden: Zum Einen spielerische Risiken und zum Anderen strategische Risiken. Über die spielerischen Risiken spricht man häufig, vor allem dann, wenn eine Mannschaft wie ManCity oder Bayern mal ausgekontert wird. Plötzlich ist dann die Spielweise, mit der man 95% seiner Spiele kontrolliert und eine Vielzahl an Titel holt, zu riskant.
Strategische Risiken werden derweil zu oft außen vor gelassen. Betrachtet man Fußballspiele aus einem strategischen Blickwinkel, ist dass, was ManCity, Bayern und Co. machen, nicht riskant. Diese Mannschaften dominieren Spiele, sind auch aufgrund von Risiken, die sie gegen den Ball bewusst wählen, oftmals so stark, dass ihre Überlegenheit selbst von der Zufälligkeit von Einzelspielen nicht gefährdet wird.
Im Achtelfinale dieser EM gingen Gareth Southgate und Joachim Löw mit ihren spielerischen Risikominimierungen jedoch ein großes strategisches Risiko. Beiden Trainern wird klar gewesen sein, dass dieses Spiel so durch einige wenige Szenen entschieden wird. Viel riskanter kann man ein Spiel kaum angehen.
Fußball ist ein low-scoring-Sport. Es fallen wenige Tore. Genau deswegen ist es so wichtig, sich möglichst viele Chancen herauszuspielen (und möglichst wenige zuzulassen). Jede Chance erhöht die Wahrscheinlichkeit auf einen Sieg. Denken wir nur mal zurück an die xG-Werte: 1,31 zu 1,28. Praktisch genau 50/50. Deutschland gewinnt dieses Spiel womöglich in fünf von zehn Fällen, verliert es jedoch auch in fünf von zehn Fällen (der Einfachheit halber hier mal die Möglichkeit von Unentschieden vernachlässigt).
Nach Gründen für das Ausscheiden gefragt, antwortete Löw, dass man eine der beiden Großchancen nicht genutzt hat und es in solchen Spielen darauf ankommen würde. Damit hat er absolut Recht. Allerdings ist er auch dafür verantwortlich, dass dieses Spiel durch nur zwei Großchancen entschieden wird. Toni Kroos´ Antwort darauf, was fehlte, war übrigens Effektivität. Damit schlägt er in genau dieselbe Kerbe wie Löw.
Das Problem: Effektivität im Abschluss verläuft nicht konstant. Sonst bräuchte man keine xG-Werte, da sie exakt mit den tatsächlichen Toren übereinstimmen. Es geht letztlich darum, sich die größte Chance auf den eigenen Erfolg zu geben. Und die erhöht sich mit jeder eigenen Torchance. Sich darauf zu verlassen, dank einer einzelnen Großchance ein Spiel gewinnen zu können, ist strategisch naiv. Es kann vereinzelt funktionieren, meistens wird es das allerdings nicht.
Deswegen sollte man Leistungen in Fußballspielen auch nicht anhand von Ergebnissen messen. Stattdessen wird eine Leistung besser, je mehr man die eigenen Siegchancen erhöht. Die Erhöhung von Siegchancen ist es, was Leistung im Fußball ausmacht, vor allem taktische Leistung.
Weniger spielerische Risiken können also mehr strategische Risiken nach sich ziehen. Im Fußball gilt daher das Weniger ist Mehr häufig nicht. Stattdessen sorgen mehr spielerische Risiken oftmals für weniger strategische Risiken. Mehr ist Weniger.