Die zehn spannendsten Taktik-Trends der EM 2021

Alex
15 min readJul 12, 2021

--

Die EM 2021 übertraf die Erwartungen vieler Zuschauer. Im Gegensatz zur EM 2016 war das Turnier dominiert von Mannschaften, die offensiven Fußball spielen wollten und spannende Ideen haben. Hier möchte ich zehn dieser Ideen und Trends der EM etwas genauer vorstellen.

  1. Italiens Positionsspiel

Von vielen Seiten hörte man bei dieser EM, dass Italien am ehesten an eine Klub-Mannschaft erinnerte und die Mannschaft Roberto Mancinis den taktisch anspruchsvollsten Fußball spielte.

Werden Trainer auf Formationen angesprochen, antworten sie oft indem sie die Wichtigkeit von Formationen runterspielen und stattdessen die Relevanz von spielerischen Prinzipien herausheben. Genau diese spielerischen Prinzipien könnte man auch bei Italien tiefer analysieren, da sie fantastisch sind. Bei Italien lohnt sich jedoch auch ein Blick auf die grundlegenden Positionierungen, da Mancini hier einige interessante Kniffe vorgenommen hat.

Grundstruktur Italiens

Basis des italienischen Erfolgs war die Asymmetrie der beiden Außenverteidiger. Linksverteidiger Spinazzola schob weit nach vorne, Rechtsverteidiger di Lorenzo sicherte oft eher ab. Das sorgte vor den beiden ebenfalls für asymmetrische Anordnungen. Der linke Achter Verratti stand tiefer als der rechte Achter Barella. Linksaußen Insigne rückte derweil konstant in den Halbraum ein, während der Rechtsaußen (entweder Chiesa oder Berardi) breit blieb.

Die dadurch entstehende Ordnung schaffte vor allem eins: Für jeden Spieler Anspielstationen schaffen. Noch besser: Jeder Spieler hat fast durchgehend mehrere Optionen für einen Pass und kann dabei auch immer diagonal agieren (zur Diagonalität später noch mehr).

Anspielstation für italienische Spieler

Nichts von all dem klingt spektakulär, aber das italienische Ballbesitzsystem war in seiner Funktionsweise enorm effektiv. Grundlage dafür sind besonders die versetzen Positionierungen der einzelnen Spieler. Genau diese Positionierungen ermöglichen eine stetige Progressivität im Passspiel, die Italien bei dieser EM auszeichnete. In der K.O.-Runde musste Mancini sich vermehrt den Gegnern anpassen und letztlich auch den verletzten Spinazzola ersetzen, aber die Basis des Spiels blieb dieselbe.

Italiens realtaktische Formation lässt sich im klassischen Format kaum beschreiben, da es oft keine klaren Ketten gab. Die versetzten Positionierungen der Italiener wurden zum Trumph, da sie es den gegnerischen Mannschaften noch schwerer machten, sinnvolle Zuordnungen zu finden.

2. Zwei-Mann-Team Wales

Fußball ist ein sehr komplizierter Sport. Die Top-Vereine der Welt haben nicht ohne Grund eine Armee von Analysten und Scouts. Umso mehr Spaß macht es mir, wenn ein Spiel durch sehr simple Mittel entschieden wird. Genauso geschehen beim 2:0 von Wales gegen die Türkei.

Es wäre unfair Wales als Zwei-Mann-Team zu bezeichnen, aber in diesem Spiel stellte sich da Gefühl ein, dass Gareth Bale und Aaron Ramsey letztlich alleine entscheiden dürfen, was alles in diesem Spiel passieren soll. Highlight war das 1:0 Ramseys, das auf exakt dieselbe Art und Weise bereits zuvor mehrmals hätte erzielt werden können.

Bale lässt sich fallen und spielt den Chip-Ball hinter die Abwehrkette auf einen perfekten Tiefenlaufweg Ramseys. In diesen Momenten sieht Fußball unglaublich simpel aus. Und das Wunderbare ist: In diesem Fall war es auch recht simpel.

Die Türkei enttäuschte bei dieser EM, verteidigte abenteurlich. Wales hatte aber auch genau die beiden perfekten Spieler, um die Schwächen der Türkei offenzulegen. Bale kennt man zwar in seiner Karriere nicht als tiefen Gestalter, aber mit seiner Technik und Übersicht kann er hervorragende Pässe spielen. Ramsey war derweil über seine gesamte Karriere ein unglaublich smarter Spieler, dessen Spezialität genau solche Tiefenläufe wie dieser hier sind.

Die Türkei hatte derweil genau in den Aspekten des Spiels Probleme, die Bale und Ramsey lagen. Die Mannschaft von Şenol Güneş konnte selten genug Druck auf den Ballführenden ausüben und hatte enorme Probleme bei der Zuteilung im Mittelfeld, vor allem wenn gegnerische Spieler ihre Position sehr weiträumig interpretierten.

Fußball ist so schön, da sich durch unterschiedlichste Match-Ups ständig unterschiedlichste Szenarien bilden. Einige Match-Ups werden durch taktische Feinheiten entschieden, aber manche Match-Ups können immer noch von grandiosen Einzelspielern entschieden werden. Türkei-Wales hat genau das gezeigt und war auch deswegen eines meiner Lieblingsspiele des Turniers.

3. Torlose “Torjäger”

In der Fußball-Berichterstattung werden sehr gerne Synonyme verwendet. Wenn ein Autor nicht zum wiederholten Mal vom “Stürmer” oder “Angreifer” schreiben möchte, greift er gerne auf den Begriff des “Torjägers” zurück. Einen Stürmer mit einem Torjäger gleichzusetzen, ist jedoch widersprüchlich, denn auch bei dieser EM haben sich einige Spieler als hervorragende Stürmer, aber schwächere Torjäger bewiesen.

Stürmer werden leider immer noch an der Anzahl ihrer Tore gemessen. Dabei tun sie so viel mehr für die gesamte Struktur ihrer Mannschaft. Wout Weghorst beschäftigte konstant die Innenverteidiger der Gegner der Niederlande und kreierte so Räume für Depay und Wijnaldum. Räume, die fehlten, als er in den letzten beiden Spielen nur noch auf der Bank saß. Álvaro Morata erzielte drei Treffer, glaubt man Twitter hätte er jedoch mindestens zehn schießen müssen. Viel wichtiger als seine Tore war jedoch seine Rolle im Kombinationsspiel Spaniens, dem sehr klugen Fallenlassen und Kreieren einiger Möglichkeiten. Alexander Isak blieb komplett ohne Tor. Dafür holte er sich Bälle mehrmals direkt in der eigenen Hälfte ab und dribbelte wiederholt bis in den gegnerischen Sechzehner.

Insgesamt kommen Weghorst, Morata und Isak auf vier Tore in 968 Minuten. Grob hochgerechnet ein Tor alle zweieinhalb Spiele. Das lässt niemanden aufhorchen. Dennoch gehörten sie zu den besten Stürmern der EM. Zu den besten Torjägern zählen sie dagegen nicht. Kein Spieler sollte anhand von oberflächlichen Daten wie Toren/Assists/Gegentoren… gemessen werden, die man sich ursprünglich mal von einem Spieler auf seiner Position erwarten konnte. Das wird der Komplexität des Fußballs nicht gerecht.

4. Eigentore: Der bessere Torjäger

Wenn aber Stürmer keine Tore erzielen, wer ist dann dafür verantwortlich? Top-Torschütze dieser EM war die gegnerische Mannschaft. Ganze elf Eigentore wurden gemessen. Ein Rekord bei Europa- und Weltmeisterschaften. Für diesen Rekord konnte ich drei Gründe finden. Zwei recht offensichtliche und einen interessanten, der moderne Angriffsstrategien im Fußball offenlegt.

Beginnen wir beim Offensichtlichen: Es werden mittlerweile mehr Spiele absolviert als bei vorherigen großen Turnieren, also gibt es auch mehr Chancen für Eigentore. Zudem wurden einige Eigentore als Eigentore gewertet, die historisch oft nicht als solche wahrgenommen wurden. Dazu zählen bei dieser EM zwei angebliche Eigentore von Torhütern und ein von Zakaria abgefälschter Schuss. Das 50-Meter-Eigentor von Pedri und der skurrile Patzer Dubravkas sind derweil wohl einmalige Aussetzer. Abgesehen von einem weiteren Eigentor nach einer Ecke folgen die restlichen fünf Treffer ins eigene Tor jedoch alle demselben spielerischen Muster.

Um dieses Muster zu erkennen müssen wir nur einmal auf die Entstehung der Eigentore von Mats Hummels und Rúben Dias blicken.

Entstehung Eigentor Mats Hummels
Entstehung Eigentor Rúben Dias

In beiden Fällen erreicht den “Vorlagengeber” eine Seitenverlagerung. Lucas Hernández und Gosens nehmen den Ball direkt aus der Luft, bringen den Ball beide mit dem ersten Kontakt ins Zentrum. Dort steht ein potenzieller Abnehmer und meist mehrere Verteidiger, die alle in Richtung eigenes Tor blicken. Einer dieser Spieler erzielt dann das Eigentor.

Entstehung Eigentor Raphael Guerreiro

Bei den restlichen drei Eigentoren ist der Ablauf ähnlich. Beim zweiten portugiesichen Eigentor landet der Ball am zweiten Pfosten bei Kimmich, der den Ball wieder ins Zentrum spielt, wo Guerreiro noch vor Gnabry und Havertz an den Ball kommt, aber nur ins eigene Tor treffen kann.

Entstehung Eigentor Merih Demiral

Vor Demirals Eigentor gewinnt Berardi auf dem Flügel ein Eins-gegen-Eins-Duell, geht die Linie herunter und haut den Ball halbhoch in die Mitte. Hier ist es Demiral, der noch vor Immobile in den Ball springt, somit eine Großchance verhindern will und letztlich den Ball ins eigene Tor befördert.

Entstehung Eigentor Simon Kjær

Das letzte Eigentor der EM fiel derweil nach einem genialen linienbrechenden Pass Harry Kanes (auch kein klassischer Torjäger). Saka muss den Ball nur noch quer legen auf den freistehenden Sterling. Kjær kommt noch dazwischen, aber nur zum Preise eines Gegentores.

Das Muster des Rückpasses von der Grundlinie zurück in den Strafraum sieht man mittlerweile sehr häufig im Fußball und das aus gutem Grund. Viele Mannschaften verteidigen immer kompakter. Im Zentrum lassen sich kaum noch Lücken finden. Früher zogen Flügelspieler wie Arjen Robben vom Flügel ins Zentrum und suchten den Abschluss. In den letzten Jahren wurden aber vermehrt geradlinige Außenverteidiger (in Fünferketten) oder traditionellere Flügelspieler eingesetzt, um am Flügel den Durchbruch außen zu erlangen.

Passenderweise wurden drei der fünf auf diese Art erzielten Eigentore von Außenverteidigern vorbereitet (Lucas H., Gosens, Kimmich) und zwei von klassischeren Flügelspielern (Saka, Berardi). Diese Art der Eigentore ist erzwungen und in letzter Instanz kaum noch zu verteidigen. Die angreifende Mannschaft zwingt Verteidiger in suboptimale Orientierungen, aus denen sie dann in Sekundenbruchteilen technisch schwierige Lösungen finden müssen. Natürlich gelingt das den Verteidigern nicht konstant. Wie immer in der Geschichte des Fußballs finden Offensiven Lösungen auf die defensive META der aktuellen Zeit, auch wenn es in diesem Fall nicht zwingend durch eigene Tore geschehen muss.

5. Umstellungen und Matchpläne

Turnierfußball ist schwer zu bewerten. Anders als in einer Liga machen einzelne Spiele viel mehr aus. Dementsprechend ist auch das Entwickeln von sinnvollen Matchplänen und passenden In-Game-Umstellungen ein noch wichtigerer Bestandteil im Turnierfußball als im Klubfußball.

Das konnten wir bei dieser EM sowohl im Guten als auch im Schlechten sehen. Kasper Hjlumand reagierte auf das Spielgeschehen oft damit, dass er Andreas Christensen entweder aus der Dreierkette auf die Sechs vorschob oder von der Sechs in eine Dreierkette zurückfallenließ. Diese taktische Flexibilität sowie kluge Auswechslungen waren einer der entscheidenden Faktoren für den Halbfinaleinzug. Ausgerechnet dort ging der Plan dann nicht optimal auf. Schon früh in Halbzeit Zwei wirkte Dänemark sehr erschöpft, auch die Wechsel griffen ausnahmsweise mal nicht. Turnierfußball bestraft sowas direkt.

Dänemarks Halbfinal-Gegner England wechselte derweil gegner-abhängig zwischen Vierer- und Fünferkette. Auch das Personal wurde bunt durchgemischt und stets auf den Gegner angepasst. So stand beispielsweise Rechtsverteidiger Kieran Trippier im ersten Gruppenspiel auf einmal als Linksverteidiger auf dem Feld.

Und auch im anderen Halbfinale konnten wir eine Mannchaft beobachten, die während des gesamten Turniers hin- und hertauschte. Luis Enrique ließ nie dieselbe Startelf hintereinander spielen, wechselte oft mehrfach durch, wählte im Halbfinale sogar seinen womöglich besten Matchplan und verlor dieses Spiel nur sehr unglücklich.

Italien ist die einzige Mannschaft aus den Halbfinalisten, die auf eine recht konstante Startelf und vor allem eine klare taktische Idee setzte, auch wenn man in der K.O.-Phase auch durchaus andere Gesichter als in der Gruppenphase zeigte.

Die Relevanz von Matchplänen im Nationalmannschafts-Fußball ist auch deswegen logisch, da Trainer hier deutlich weniger Zeit haben, ihrer Mannschaft eine klare Idee zu geben. Dadurch gibt es auch mehr Schwächen, die ausgenutzt werden können. Am erfolgreichsten zeigten sich bei dieser EM genau die Teams, die gegnerische Schwächen ausnutzen konnten, aber trotzdem eine klare Idee des eigenen Spiels haben. Zu dieser Gruppe zählen vor allem Dänemark, Spanien und Italien, mit Abstrichen auch England.

6. Spaniens ManCity-Kopie

Wie schon angedeutet, war ich von Luis Enriques Matchplan im Halbfinale gegen Italien begeistert. Das liegt aber nur zum Teil an der Qualität des Matchplans. Was mich am meisten faszinierte, war, wie klar der Plan von Pep Guardiolas ManCity inspiriert wurde.

Spanien ging auf dem Papier ins Halbfinale mit dem gewohnten 4–3–3, nur diesmal mit Dani Olmo anstelle von Álvaro Morata als Stürmer. Da Olmo seine Rolle jedoch als falsche Neun interpretierte, ergab sich eine sehr City-ähnliche Struktur:

Spaniens Aufstellung im Halbfinale

ManCity ordnete sich diese Saison oft ähnlich an. In meinem Text zu den spannendsten Taktik-Trends der vergangenen Saison hatte ich Citys Raumbesetzung so verdeutlicht:

ManCitys Raumbesetzung

Viele Prinzipien erkannten wir auch im Halbfinale-Spiel Spaniens wieder: Olmo, der sich fallen ließ, um die Überzahl im Mittelfeld zu kreieren. Die Überzahl im Aufbau, die es ermöglichte das sonst starke italienische Pressing mittelmäßig aussehen zu lassen. Das dynamische Besetzen des Raums hinter der Abwehr, meist durch Oyarzabal, der seine beiden großen Chancen leider verpasste. Auch 1gegen1-Situationen auf dem Flügel konnte man recht regelmäßig kreieren.

Das Halbfinale bot zudem die wohl beste Leistung eines Einzelspielers bei diesem Turnier. Olmo interpretierte die falsche Neun genial. Er ließ sich in den perfekten Momenten fallen, ermöglichte es Bonucci und Chiellini nicht, sich an ihm zu orientierten, konnte immer wieder im Zwischenlinienraum aufdrehen, fand großartige Anschlussaktionen und gewann auch viele Bälle im Gegenpressing oder behauptete sich sogar noch bevor es zu einer Gegenpressing-Aktion hätte kommen können.

Dieses Halbfinale war in meinen Augen das beste Spiel des Turniers. Natürlich war Pep Guardiola zumindest konzeptionell ein Teil des Spiels.

7. Englands taktische (und strategische?) Qualität

Die englische Nationalmannschaft spaltete die Gemüter. Über allem stand dabei die Frage, wie gut England denn nun ist. Im Fußball ist das allerdings eine der schwierigsten Fragen überhaupt, besonders in einem Turnier, indem reine Ergebnisse diese Frage nicht beantworten können.

Möchte man diese Frage normalerweise beantworten, schaut man oft die taktische Qualität einer Mannschaft. Das kann man auch bei England machen. Defensiv ragte England positiv hervor, war eine der besten Mannschaften des Turniers. Hier kann man dem Team von Gareth Southgate nur Positives attestieren.

Blickt man auf die Offensive wird es dagegen schwieriger. Wie bereits angesprochen passte Southgate sein Personal oft dem Gegner an. Viel hing dann aber auch vom Personal ab. Allzu viele klare taktische Muster gab es nicht. Gegen tiefstehende Gegner tat man sich immer mal wieder schwer. Letztlich erlangte man das Gefühl, dass England kann, wenn sie müssen.

Genau deswegen lohnt es sich bei England über die Strategie zu sprechen. Ihren Plan auszuführen, gelang England fast durchgehend. Dieser Plan hatte auch taktische Vorteile (vor allem defensive Stabilität). Die große Frage ist, ob der Plan aus strategischer Sicht sinnvoll ist. Besonders das Achtelfinale gegen Deutschland offenbart hier einiges.

Beide Mannschaften setzten hier extrem auf Sicherheit. So gab es im gesamten Match vier Großchancen, zwei auf jeder Seite, und darüber hinaus nicht viel mehr. Genau das halte ich für eine suboptimale Herangehensweise. Ja, es kann funktionieren; tat es in diesem Fall auch. Allerdings provoziert man so ein Spiel, das durch eine äußerst geringe Anzahl an Möglichkeiten entschieden wird. Das ist gefährlich, denn so verlässt man sich auf die Chancenverwertung einzelner Spieler, die vor allem auf ein Match gesehen extremst unzuverlässig ist.

Im Finale gegen Italien war der Ansatz ähnlich. Die erste halbe Stunde spielte man brillant, hatte die Mehrzahl an Chancen und dominierte das Geschehen. Dann ließ man sich jedoch zunehmend fallen. So kam Italien ins Spiel und erzielte den Ausgleich. England verhinderte größtenteils weitere Großchancen, verpasste aber die Chance, das Spiel in der regulären Spielzeit zu entscheiden. Man nahm das Elfmeterschießen in den Kauf, mit bekanntem Resultat.

Gareth Southgates England war bei diesem Turnier eine Mannschaft, die einen klaren Plan verfolgte und diesen auch gut umsetzte. Ob die Wahl dieses Planes strategisch klug war, bezweifle ich aber trotz des Erfolgs.

8. Danish Diagonalität (und Vertikalität)

Wie die dänische Nationalmannschaft nach dem Zusammenbruch Christian Eriksens noch in das Halbfinale einzog, war die Geschichte des Turniers. Dänemark wurde zum Lieblingsteam vieler Zuschauer. Das lag jedoch nicht nur an dem Erfolg und der Geschichte dahinter, sondern vor allem auch daran, wie Dänemark spielte. Der Fußball, den Kasper Hjulmand spielen ließ, war nämlich hervorragend anzusehen.

Dänemarks Spielanlage war sehr vertikal ausgelegt. Das Mittelfeld wurde immer wieder recht schnell überspielt. Das ergibt auch Sinn, da man mit Hojbjerg und Delaney keine genialen kreativen Mittelfeldspieler hat und auch wenig Spieler, die sich im Zwischenlinienraum wohl fühlen. Die Innenverteidiger suchten gerne direkt die Stürmer. Am meisten Spaß machte Dänemark jedoch immer dann, wenn man über die Außenverteidiger der Fünferkette aufbaute. Im 5–2–3 der Dänen ging es von diesen Außenverteidigern sehr schnell diagonal zu einem der drei Stürmer. Die Anordnung der drei Stürmer war perfekt für diese Pässe.

Dänemarks grundlegende offensive Struktur

Neben dem zentralen Stürmer, der für viele Pässe der erste Abnehmer war, tummelten sich Braithwaite und Damsgaard meist im direkten Umfeld. Für den Passempfänger gab es so direkt zwei Anspielstation. Dafür musste der zentrale Stürmer nur kurz klaschen lassen. Der Stürmer, der die Ablage nicht empfang, suchte derweil oft direkt den Weg in die Tiefe, genauso wie oft auch der zentrale Stürmer. Dieser Tiefenlauf konnte entweder vom Empfänger des Klatsch-Passes bedient werden oder die Tiefenläufe zogen Gegenspieler weg, sodass der Empfänger des Klatsch-Passes mehr Raum kurz vor der gegnerischen Kette erhält. Ein perfektes Ausgangsszenario.

Dem Erfolg dieses taktischen Musters liegen die diagonalen Pässe der Außenverteidiger zu Grunde. Joakim Mæhle spielte diese immer wieder großartig von links, aber auch Jens Stryger Larsen konnte diese auf rechts einstreuen. Dafür mussten sie oft zunächst einen gegnerischen Flügelspieler ausspielen, was ihnen konstant gut gelang. Sobald der Pass in Richtung Zentum gelangt, ist er sehr schwer zu verteidigen, da der Passempfänger anders als bei einem rein horizontalen Pass oft noch die Möglichkeit zum Aufdrehen hat. Besonders Mikkel Damsgaard nutzte das häufig. Ein weiterer Vorteil des linienbrechenden, diagonalen Passes von der Außenverteidiger-Position ist, dass viele Gegner das Zentrum schließen. Das macht das Spielen vertikaler, linienbrechender Pässe schwer. Außen muss in vielen Fällen aber nur ein Gegenspieler geschlagen werden, bevor ein größeres Passfenster entsteht.

Dänemark erinnerte in seiner grundsätzlichen Spielanlage zwar nicht allzu sehr an Italien, was beide Mannschaften jedoch vereinte, war die hohe Diagonalität in allen Aktionen. Für mich liegt hier auch der Grund, warum viele Beobachter genau diesen beiden Teams am liebsten zusahen.

9. Die Niederlagen-Serie der Fünferkette

In meinem Text zu den Taktik-Trends der Saison 20/21 schrieb ich direkt zu Beginn euphorisch über den Siegszug der Dreierkette. Blickt man nun auf diese EM und Dreierketten-Teams, scheint dieser Siegeszug geendet zu haben. So gab es einige unerfolgreiche Mannschaften, die auf dem Papier mit einer Dreierkette aufliefen.

Das große Aber: Genau diese unerfolgreichen Dreierketten-Teams interpretierten die Dreierkette so defensiv, dass die konstant zur Fünferkette wurde. Anders als bei den Top-Teams der Saison 20/21 wurde sie nicht als offensives Mittel gesehen.

Für die Fünferketten-Teams war größtenteils bereits in der Vorrunde Schluss. Finnland, Russland, Nordmazedonien, Schottland und Ungarn schafften es jeweils nicht über die ersten drei Spiele hinaus im Turnier zu bleiben. Natürlich waren alle diese Mannschaften keine großen Favoriten, aber noch 2016 schafften es einige der sehr defensiv orientierten Teams in die K.O.-Runde, darunter auch die Fünferketten von Wales und Nordirland.

Betrachtet man das gesamte Turnier, fällt auf, dass kein Außenseiter durch eine sehr defensive Spielweise für einen Überraschungserfolg sorgen konnte. Als Ziel nur das Halten der Null auszurufen, scheint weniger erfolgreich als noch vor einem halben Jahrzehnt. Eine Entwicklung, die jeder neutrale Zuschauer begrüßen wird.

Die Gründe hierfür werden vielfältig sein. Eine erschöpfende Saison und noch weniger eingespielte Mannschaften werden dazu beigetragen werden. Vor allem ist dies aber mal wieder ein wunderbares Beispiel dafür, dass der Fußball in Zyklen verläuft. Das Bespielen von tiefen Fünferketten fiel vielen Mannschaften schwer. Deswegen suchte man nach Lösungen gegen diese tiefen Gegner, fand diese und setzt diese in den vergangenen Jahren sowie bei dieser EM ein. Nun sind defensiver orientierte Mannschaften wieder an der Reihe Lösungen auf diese Probleme zu finden. Folgt man diesem Zyklus, wird die nächste EM vermutlich kein Spektakel werden. Dafür darf man sich bereits auf die EM 2028 freuen.

10. Falsch-füßige” Linksverteidiger

Das Beste kommt zum Schluss: Der offensichtlichste Trend dieser EM waren ungewöhnlich agierende Außen-, und besonders Linksverteidiger. Im Klub-Fußball sieht man immer mal wieder einen rechtsfüßigen Linksverteidiger. Die meisten Top-Klubs können sich jedoch den Luxus einen Linksfußes auf links leisten. Bei vielen weiteren Teams muss ein gelernter Flügelspieler oder Innenverteidiger auf der Linksverteidiger-Position aushelfen; Hauptsache Linksfuß.

Bei dieser EM wurde mit dieser Tradition zunehmend gebrochen. Das liegt auch daran, dass die Auswahl an Spielern für die Linksverteidiger-Position noch geringer ist als im Klub-Fußball. Die Linksverteidiger wurden allerdings nicht zu Verlegenheitens-Lösungen, sondern in einigen Fällen zu den bestimmenden Spielern ihrer Mannschaft und das nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Rechtsfüßigkeit.

Italiens Leonardo Spinazzola positionierte sich sehr hoch, ging von dort oft am gegnerischen Strafraumrand ins Dribbling und konnte sich den Ball auf seinen starken Fuß legen. Dänemarks Joakim Mæhle hatte ähnliche Szenen, löste aber bereits davor unglaublich viele Situationen aus dem Mitteldrittel und agierte gestalterisch, war so einer der Hauptfaktoren für Dänemarks Diagonalität. Belgiens Thorgan Hazard dribbelte oft in den Zwischenlinienraum, erzielte im Anschluss an eine solche Aktion ein Traumtor gegen Portugal. Mert Müldür fand im Trikot der Türkei derweil im Aufbau Lösungen durch Andribbeln in Richtung Zentrum sowie einrückende Bewegungen. Auch Tscheschien lief jedes Spiel mit einem Rechtsfuß als Linksverteidiger auf, hier war die Interpretation jedoch etwas traditioneller und defensiver.

Aktionen der “falsch”-füßigen Linksverteidiger

Viele Teams präferieren einen Linksfuß auf links, da er ihnen unter anderem sicherere Passwinkel über die Außenbahnen gibt und mit seinem stärkeren Fuß flanken kann. Je nach Spielidee kann ein Rechtsfuß aber eine spannende Alternative darstellen. Spinazzolas Rolle im Spiel Italiens war zum Beispiel eine, die der eines klassischen Flügelspielers ähnelte. Natürlich ist es dann wünschenswert, wenn er am gegnerischen Sechzehner per Dribbling auf seinen starken Fuß und in Richtung Abschluss ziehen kann. Mæhle half die Rechtsfüßigkeit derweil dabei, sich ins Zentrum zu orientieren und ergab leicht bessere Passwinkel für seine diagonalen Pässe.

In den vergangenen Jahrzehnten fanden im Nationalmannschafts-Fußball deutlich weniger Innovationen statt als in den Anfangsjahren des Fußballs. Gerade bei dieser EM wirkte es jedoch so, als würden sich Trainer trauen, einzigartige System zu schaffen und neue Rollen zu kreieren. Genauso macht Nationalmannschafts-Fußball Spaß. Denn die Grundlage der begrenzten Auswahlmöglichkeit von Spielern sollte eigentlich der perfekte Anlass für das Entwickeln neuartiger Ideen sein.

--

--

Alex
Alex

Written by Alex

It’s a game of position, not possession. (Domenec Torrent

No responses yet